125 Jahre Lutherkirche

Die Luthergemeinde im Kampf gegen das Kraftwerk


„REGE BAUTÄTIGKEIT AM OBERJÄGERWEG!" Diese Meldung hätten die Bewag und die Senatspressestelle gern gebracht, sie wurde ihnen aber nicht gegönnt. Sie kam stattdessen am 22. November 1976 ironisch auf einem Flugblatt der Bürgerinitiative Kraftwerk Oberhavel/Oberjägerweg: „Seit Sonntagnachmittag wird im Spandauer Forst eifrig gesägt und gehämmert. Allerdings fallen keine Bäume und es wird auch kein Kraftwerk gebaut. Ein Gemeinschaftshaus wird errichtet, Lieder werden gesungen, Musikgruppen spielen und Bürger verbringen die Nacht im Freien.“

ZweiTage vorher waren 6000 Demonstranten auf einem Zug vomPaul-Schneider-Haus zum Rathausplatz aufgerufen worden, am Sonntagzum Lehrspaziergang der BI vom Johannesstift zum Oberjägerweg je einBrett von ca. 1,50 m mitzubringen. „Bretter gibt‘s umsonst, z.B.in Abrisshäusern.“ Am Sonntag stand bei Einbruch der Dunkelheitschon eine passable Hütte, die in den nächsten MonatenKücheneinrichtung und zahlreiche Nebengemächer bekam und bis zumMai 77 bewohnt wurde.


Esging darum, „ständig im Wald präsent zu sein“ (zu deutsch, aberzunächst – von Rechts wegen – vermieden: ihn zu besetzen), damit die zum Dezember 76 geplanten Rodungen für das Kohle-Großkraftwerkverhindert würden. Die Aktion war begleitet von Bürgerdruck, Öffentlichkeitsarbeit und Prozessen gegen Senat und Bewag.


Dieseverbreiteten, in West-Berlin würden bald die Lichter ausgehen.Vielen Bürgern aber gingen die Lichter auf: ÜberGeschäftsinteressen, gelenkte Energieprognosen undVerantwortungslosigkeit gegen die Umwelt. Dazu trug die immerqualifizierter werdende Bildungsarbeit der BI, seit Frühjahr 76jeden Donnerstag um 19.30 Uhr im Paul-Schneider-Haus, bei. Da wurdedie Palette der immer deutlicher werdenden ökologischen Probleme undmöglicher Alternativen ausgebreitet und gewaltfreier Widerstandeingeübt. Letzteres war nötig, unser Gegner war ja nicht diePolizei.


DieBI gewann immer mehr Menschen. Die Lutherkirche war am 28.10.76 beieiner Veranstaltung knallvoll, und am 13.11. platzte das PSH beinaheaus dem Fugen. Zunächst eine Initiative unmittelbar betroffenerSpandauer, wuchs sie um andere besorgte Menschen, um verschiedensteUmweltinitiativen und Naturschutzgruppen, um Oberschüler undStudenten aus ganz West-Berlin und natürlich auch um die vielenAufbauorganisationen für die kommenden revolutionärenWeltereignisse.


Ichwar damals gerne mittendrin, habe mit Lust inhaltlich mitgemischt undwar oft der einzige, der den PSH-Generalschlüssel hatte und umTelefon, Kleber, Schnur und Pappe wusste...Es war nicht leicht, dasalles zusammenzuhalten. Wenn ich dann donnerstags um Mitternacht mitwenigen anderen den großen Saal lüftete (was damals noch gepafftwurde!) und fegte, war ich manchmal richtig fertig. Dann nachts imKeller auf der alten Rotaprint-Maschine noch Flugblätter gedruckt.Da lagen Fehlleistungen nahe, kein Wunder, dass bei einer Beerdigungnach meiner „Martha“-Nennung der  Verstorbenen jemand in derKapelle rufen musste:“ Frieda hieß sie!“  -  verletzend für dieTrauernden, peinlich für den Herrn Pfarrer.


Eswar eine sehr erfolgreiche BI. Ohne das Mittragen durch denGemeindekirchenrat der Luthergemeinde und ohne das PSH hätte diesebreite Initiative nicht gelingen können. Auch der Kirchenkreis trugsie mit. Es war erstaunlich, wie viel freiwillige Arbeit, fachlicheBeiträge und letztlich auch Spenden da zusammenkamen! Weil allewollten, klappte vieles trotz häufig fehlender Organisation. DieErgebnisse waren bahnbrechend: Senat und Bewag unterlagen im Frühling77 zwei mal vor den Verwaltungsgerichten. Richter Dr. Grundei sprachdort den dann ökologische Geschichte machenden Satz: „ InWest-Berlin hat die Erhaltung von Erholungsgebieten Vorrang vorIndustrieansiedlungen.“ Für Rechtsanwalt Geulen war es der erstegroße Prozess, er wurde dann bundesweit der Staranwalt in SachenStartbahnen, Autobahnen, Atomkraftwerke und Ähnlichem.

EinigeJahre später waren viele der BI-Mitglieder an der Gründung derAlternativen Liste Berlin beteiligt, die später in den BerlinerGrünen aufging.


DasMilieu der Hüttenbewohner änderte sich allmählich. Himmelfahrt 77wurde die Hütte abgebaut - gegen der Willen einiger Bewohner, diedort inzwischen ihren ersten Wohnsitz gefunden hatten. Seitdem stehtund gedeiht der Wald zwischen Teufelsmoor und Rohrpfuhl im Wechselder Jahreszeiten noch heute. Ein Tipp: Vom Oberjägerweg knapp an derStadtgrenze rechts in den Wald kommt man am damaligen Hüttenstandortvorbei. Eine überdachte ovale Bank steht da und drei Trutzbäumewachsen, am Himmelfahrtstag 77 gepflanzt. Der noch schwach rotmarkierte Wanderweg verwächst allmählich. Aus dem noch geplantenGedenkstein „Wanderer, kommst du nach Spandau…“ ist dann nichtsmehr geworden, die Aktiven hatten sich alle längst anderswoengagiert.

DerEichen- und Buchenwald wäre dort großflächig bis zur Stadtgrenzebeseitigt, das Teufelsmoor zerstört. Ein 1200 Megawatt-Koloss stündeda, doppelt so groß wie das dann errichtete Kraftwerk Reuter-West inRuhleben, dazu betonierte Zufahrten, Gleise, Entsorgung, Lärm undeine immense Luftbelastung – alles aufgrund völlig antiquierterEnergieprognosen für West-Berlin.


Damalshaben wir am Spandauer Forst begriffen, dass die Bewahrung derSchöpfung unsere Aufgabe ist. Inzwischen ist deren globale Dimensionüberdeutlich. Wenn global die richtigen Schritte noch gelingen, kann diese Erinnerung an die Anfänge ökologischen Engagements auch fürnächste Jubiläen aufgehoben werden…


                                         KlausWiesinger, ehemaliger Pfarrer in der Luthergemeinde

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Umwälzungen in der Luthergemeinde in den 70er Jahren


Das Leben einer Kirchengemeinde ist ein dynamischer Vorgang, normalerweise in ständiger Veränderung begriffen. In den 1970er Jahren ist das in der Luthergemeinde gut zu beobachten.


Im Kirchenkreis Spandau werden damals neue Wege in der Gemeindearbeit gesucht. Die Ladenkirche vermeidet schon durch ihren Gottesdienstraum jeden hochkirchlichen Anspruch. Auf Kirchenkreisebene treffen sich die Pfarrer zu sozialpädagogischem Training. In vielen Spandauer Gemeinden wird an zeitgemäßen Formen des Konfirmandenunterrichts gearbeitet. Der Kirchenkreis setzt an Stelle des üblichen Superintendenten ein Leitungsgremium durch.

  • Arbeit mit alten Menschen

Die Seniorenarbeit bildet in der Luthergemeinde traditionell einen Schwerpunkt. Zwei Gemeindeschwestern, eine Gemeindehelferin, ein Kreis von Ehrenamtlichen und einer der Pfarrer organisieren ein wöchentliches Treffen mit Gesprächen, Spielen, Liedern und Gebet für 30 – 50 Teilnehmerinnen (Männer sind selten). Die Wochenschlussandacht im Paul-Schneider-Haus wird ganz überwiegend von Seniorinnen besucht. Ein bis zweimal jährlich wird eine Erholungswochenreise in Westdeutschland angeboten. Es gibt einen  täglichen Besuchsdienst, der auch medizinische Betreuung umfasst (Insulinspritzen).

Monatlich tagt ein Frauenkreis, der Geselligkeit mit Bibelarbeit verbindet und zu kleinen Hilfsdiensten bereit ist.

1970 hat die Luthergemeinde offiziell 15.000 Mitglieder. Nach einer Überarbeitung der Gemeindekartei sind es immer noch 10.000. Jährlich werden etwa 250 Menschen beerdigt.

  • Konfirmandenunterricht (KU)

 Am 18. April 1970 schreibt Pfarrer Gueinzius an das Konsistorium:

„Der Gemeindekirchenrat beabsichtigt, in gemeinschaftlicher Arbeit aller vier Pfarrer und weiterer Mitarbeiter die jetzt neu anzumeldenden Konfirmanden durch einen Kursunterricht auf die Konfirmation vorzubereiten.

Nach eingehenden Rücksprachen mit Gemeinden, in denen solch ein Unterricht schon läuft, und gründlichen Beratungen im Gemeindekirchenrat haben wir eine Planung erarbeitet. Über die Gestalt der Unterweisung ist aus dem beigefügten Merkblatt an die Eltern alles Nähere zu ersehen.

Wir beantragen, diese Erprobung zu genehmigen.“

Das Merkblatt vom Mai 1970 beschreibt den Kursunterricht in seinen wesentlichen Eigenschaften:

  • KU ist ab 12 Jahren möglich
  • Hausbesuch vor dem ersten Kurs
  • Kurse haben 6 – 7 Arbeitstreffen und einen Abschluss mit Gästen und einer Kursbescheinigung.
  • Zu jedem Kurs wird sich neu angemeldet. Dazu gibt es dreimal jährlich eine Kursübersicht, aus der interessierende Kurse ausgewählt werden können.
  • Die Teilnehmerzahl je Kurs liegt zwischen 10 – 12 Jugendlichen.
  • Zur Konfirmation braucht es 4 Kurse, 2 Praktika und den Gottesdienstkurs. Zwei Kurse können nicht parallel belegt werden. Die Konfirmanden bestimmen die Abstände zwischen den Kursen durch ihre Anmeldung.
  • Kursleiter sind außer den Pfarrern Jugendwart, Gemeindehelferin und Fachleute für besondere Themen.
  • Jeder Kurs steht unter einem Thema. Die Konfirmanden können nach ihren Interessen wählen. Doppelbelegungen eines Themas werden einfach bewertet.
  • Kurse müssen ohne Fehlen besucht werden.
  • Bei Kursabschlüssen machen die Konfirmanden die Gäste mit dem Kursthema bekannt und kommen mit ihnen ins Gespräch. Eine Konfirmandenprüfung entfällt.
  • Es gibt mehrere Konfirmationstermine im Jahr, zu denen sich die Konfirmanden vier Wochen vorher anmelden. Die Konfirmationen werden  von den Pfarrern abwechselnd vorgenommen.

Diese Grundidee des KursKU wird gemäß den gemachten Erfahrungen ständig weiter entwickelt und verfeinert. Pädagogisches Ziel ist es,  durch Lebensnähe zur Mitarbeit zu motivieren und dazu die Wünsche und Ideen der Jugendlichen aufzunehmen. Die dadurch bedingte Vielfalt des Kursangebots erfordert die Mitarbeit fast aller Hauptamtlichen und vieler Ehrenamtlicher. Die gelebte Gemeinde wird erfahrbar gemacht. Pädagogisch und theologisch akzeptiert der KursKU den „Mut zur Lücke“ – es wird bewusst darauf verzichtet, eine normierte Mindestkenntnis christlicher Glaubensinhalte zu vermitteln. Stattdessen will der KursKU an von den Konfirmanden ausgewählten Beispielen evangelische Glaubensinhalte nahe bringen.

Bei den Kursabschlüssen wird es schon bald üblich, dass jeder Konfirmand einen Gast mitbringt und ein Mitglied des Gemeindekirchenrats die Kursbestätigung ausgibt. In kleinen Gesprächskreisen informieren die Konfirmanden als Fachleute die Gäste über die Kursinhalte. (Häufige) Wochenendkurse kombinieren gemeinsames Leben und kreativ gestaltete Arbeit (Rollenspiele, Tonarbeiten).

Kurse können freiwillig wiederholt werden. Die Wiederholer verbessern durch ihr Interesse und ihre Unbefangenheit das Kursklima merklich und eröffnen auch neue Wege zu Jugendarbeit.

Konfirmandenfahrten nach Westdeutschland finden möglichst in selbstorganisierten Häusern statt. Neben der Beschäftigung mit dem Kursthema gibt es hier die Möglichkeit Verantwortung (heizen, Besorgungen und  Essen kochen) zu übernehmen und dabei gemeinsam neue Erfahrungen zu machen. Die Wiederholer sind dabei wichtig. Manche von ihnen werden bald Kursleiter. Leitungsteams werden Standard.

3.  Mitarbeitende Beratung MAB (Ausschuss zur Planung der Gemeindeentwicklung)

Zur Planung der Gemeindeentwicklung wurde für die Nikolai- und die Luthergemeinde vom Kirchenkreis die „mitarbeitende Beratung“ unterstützt. Von 1972 – 74 gibt es den Ausschuss zur Planung der Gemeindeentwicklung in der Luthergemeinde. Die regelmäßigen Gespräche mit drei Soziologen lassen die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter die Kommunikationsschwierigkeiten untereinander erkennen und verstehen und helfen bei der Suche, diese zu überwinden. Für Luther entsteht das „Querformat“, eine ausführliche Darstellung der einzelnen Arbeitsbereiche der Gemeinde gegliedert nach den dort tätigen Mitarbeitern, den Aktivitäten, dem Istzustand und dem angestrebten Sollzustand. Die MAB hat die Kommunikation zwischen den Arbeitsbereichen und den dort Arbeitenden wesentlich verbessert. Mit dem Querformat gibt es eine Handhabe für die Weiterentwicklung neuer Arbeitsformen.

  • Engagierter Gottesdienst

Die Gruppe entwickelt sich aus der Mitarbeit am Konfirmandenunterricht. Der KursKU verlangt eine ansprechbare Gemeinde. Dazu wird ein Gesprächsgottesdienst  erarbeitet, der den Teilnehmenden Gelegenheit gibt sich auszutauschen und den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Im Gemeindesaal frühstückt die Gemeinde und feiert das Abendmahl in kleinen Tischrunden. Die Gesprächsergebnisse der Kleingruppen werden im Plenum bekanntgemacht und noch einmal diskutiert. Die bei diesen Gottesdiensten gemachten Erfahrungen ermutigen zu weiterem Engagement in der Gemeinde. Auch theologische und organisatorische (Wochenend-)Gespräche über Aufgaben der Gemeinde mit dem Gemeindekirchenrat werden hier angestoßen.

  • Jugendarbeit  (JA)

Eine Grunderfahrung der JA in Luther zeigt: bildungsbürgerliche Angebote gehen nicht. Mehrfach bestätigt sich die Erfahrung, dass interessierte Konfirmanden sehr schnell weg bleiben, wenn sie den Eindruck haben, da liefe etwas Ähnliches wie Schule. Es ist wichtig für sie, sich nicht verpflichtet zu wissen. Anfangs kann es geschehen, dass Jugendliche scheinbar unmotiviert (aber unüberhörbar) den Raum verlassen, um dann (meistens) nach einigen Minuten zurück zu kommen. Wir lernen das als Test für die Ernsthaftigkeit des Versprechens eines freien Angebots verstehen und suchen nach angemessenen Formen der JA.

Dabei hilft eine Entwicklung, auf die niemand vorbereitet war. Anfang der 70er Jahre reagiert die Industrie auf den Arbeitskräftemangel in der Produktion mit der Anwerbung einer großen Zahl von „Gastarbeitern“, in Berlin besonders aus der Türkei. Man ist an Arbeitskräften interessiert, aber es kommen Menschen. Bald kommen auch Familien, für die kein Willkommen vorgesehen ist. Sie wohnen zu hohen Mieten oft in renovierungsbedürftigen Wohnungen.  Schulen im Gemeindebereich haben in einigen Wochen Schulklassen mit bis zu 30 – 40% Schülern, die nicht Deutsch verstehen. Die Lehrerschaft ist heillos überfordert und ängstlichen Bürgern ist das Freizeitverhalten der Neuankömmlinge nicht geheuer. Die Rede ist von der „Koeltzeparkbande“. Die städtischen Behörden reagieren zunächst nicht.

Ein Gesprächsgottesdienst mit dem Ausländerbeauftragten der Kirche hilft zu verstehen, dass die Gemeinde gefordert ist, etwas gegen die Unsicherheit und Ängste zu tun. Als erstes entsteht die Hausaufgabenhilfe. Eine Gruppe von ehrenamtlichen Frauen hilft türkischen (und deutschen) Kindern montags bis freitags jeweils zwei Stunden bei den Schularbeiten und übt  mit ihnen Deutsch im PSH. Danach wird gemeinsam gespielt.

Daneben wird ein offenes Angebot für Kinder und Jugendliche, Zugezogene und Alteingesessene, entwickelt, das mittwochs in Zusammenarbeit mit älteren Jugendlichen vorbereitet und durchgeführt wird. Im Gemeindesaal gibt es ein Bewegungsspielangebot (Volleyball, TT). Es können alle mitmachen, es gelten sportliche Spielregeln und Rücksichtnahme auf Kleinere. Im Nebenraum gibt es ein wöchentlich wechselndes  Kreativangebot und – ganz hinten in einer ruhigen Ecke – eine Gesprächsrunde zu aktuellen Themen. Die einzelnen Angebote werden von unterschiedlich vielen Leuten wahrgenommen. Auf dem Hof lernen (sehr schnell) jüngere Kinder Rad fahren. Mit der Zeit lernt man sich kennen und aufeinander eingehen.

Durch die gemeinsame Vorbereitung entwickelt sich eine Gruppe von Jugendlichen, die Verantwortung auch in anderen Bereichen der Gemeinde übernimmt. Im PSH-Keller wird in Eigenarbeit ein Jugendraum eingerichtet.

Durch Verbindung mit der Kirchengemeinde Joensuu, Nordkarelien, kommt es 71 -74 zu Internationalen Begegnungen – IB – in Finnland, Polen (Auschwitz) und der Sowjetunion (Wolgograd), später zu Reisen nach Sizilien und nach Frankreich (Larzac). Ein Ziel dabei ist, Menschen in ihrem Alltag zu begegnen und sich selber mit den Augen anderer sehen zu lernen. Die Reisen werden über Monaten intensiv vorbereitet. Sie sind für Interessierte gedacht, die elterlichen Finanzen sollen nicht den Ausschlag für das Mitfahren geben. Ende der 70er Jahre fahren Jugendkellerleute nach Südfrankreich, in die Bretagne und nach Schweden.

Im Laufe der Jahre wird die JA zu einem Schwerpunkt der Gemeinde mit bis zu drei hauptamtlichen Mitarbeitern, die zusammen mit Ehrenamtlichen arbeiten.

  • Der Gemeindekirchenrat (GKR)

Die vielen Veränderungen in der Gemeinde bleiben nicht ohne Widerspruch. Die dazu gehörenden Debatten werden im GKR lebhaft ausgetragen. Besonders der KU veranlasst immer wieder inhaltliche, theologische, kirchenpolitische Auseinandersetzungen. Einige GKR-Mitglieder sind durch den pädagogischen Ansatz des KU so irritiert, dass sie den KursKU überhaupt in Frage stellen und für den traditionellen Unterricht eintreten. Der Gipfel des zähen Ringens bildet ein Versuch, den KursKU als nicht mit den landeskirchlichen Richtlinien vereinbar darzustellen. Diese Spannungen wirken sich auch auf die Suche nach neuen Pfarrern aus. Ab Mitte der 70er Jahre ist der Streit ausgestanden.

  • Der Gemeindebeirat

Der Gemeindebeirat, Zusammenkunft aller ehren- und hauptamtlich in der Gemeinde Tätigen, erlangt seine vorgesehene Bedeutung, als er bei der Neubesetzung der Pfarrstellen die praktischen Aspekte der Arbeit – etwa die vielen Beerdigungen – deutlich benennt und dazu Antworten der Kandidaten einfordert.

  • 1973- Mitarbeiterwechsel und Ölpreisschock

1973 bringt für die Luthergemeinde einige Herausforderungen. Ende September sind drei der ursprünglich vier Pfarrer nicht mehr in der Gemeinde, ebenso ein Gemeindehelfer und die Miniclubleiterin. Die Situation wird durch einen Stellenstopp für Gemeindestellen verschärft, den die Landeskirche im Gefolge der Ölpreiskrise verhängt.

Was tun? Die vorhandenen haupt- und ehrenamtlichen Aktiven entwickeln ein Organisationsmodell das wesentlichen Aufgaben der Gemeinde mit dem vorhandenen Personalbestand erfüllen können soll. Dabei spielt die wöchentliche Mitarbeiterbesprechung eine tragende Rolle. Es geht nicht mehr nur um technische Absprachen, die auch mal zwischen Tür und Angel laufen können. Alle Mitarbeitenden sind für das Leben der Gemeinde gleich wichtig und müssen deshalb Aufgaben und Planung kennen, verstehen und akzeptieren. Für die Besprechung braucht es einen Vormittag, der durch ein gemeinsames Mittagessen abgeschlossen wird. Die MA besprechen gemeinsam die anliegenden Aufgaben, lernen sie so kennen und (ein-) schätzen  Der Kirchwart muss wissen, was in der Jugendarbeit geplant ist und was damit auf ihn zukommt. Dieser intensive Austausch minimiert die Reibungen im täglichen Betrieb.

Da auch für Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen die Gelder knapp sind, werden Selbsthilfeaktionen gestartet, wo sonst ein Auftrag vergeben würde. Für Material und Werkzeug reicht das Geld irgendwie, die Arbeit wird selbst organisiert (z. B. Dachreparatur PSH, Gemeindesaal-Renovierung). Natürlich gibt es auch kollegiale Unterstützung von außen und 1974 entlasten zwei Hilfsprediger die Gemeindearbeit.

  • Kirchenmusik

Die Kirchenmusik führt bis in die Mitte der 70er Jahre ein etwas verkapseltes Dasein. Mit einem  neuen Kantor ändert sich das erfreulich: ein Chor entsteht und die Stadtstreicher fangen an zu streichen. Es gibt Konzerte und Musikfreizeiten. Die Gottesdienste und der KU werden musikalisch ertüchtigt. Neue Lieder dürfen auch rhythmisch sein.

  • Miniclub

Die 70er sind die Zeit der Selbsthilfekindergärten und Miniclubs. In der Garderobe des PSH bauen interessierte Familien einen  Miniclubraum, der zusammen mit einer Leiterin von Müttern geführt wird. In den Anfangsjahren  sind die Beiträge noch nach der wirtschaftlichen Lage der Familien gestaffelt.

  • Bürgerinitiativen und Stadtteilarbeit

Auch andere politische Entscheidungen fordern die Gemeinde heraus: besonders die Eröffnung des Flughafens Tegel und der geplante Bau des Kohlekraftwerks Oberhavel. Hierzu bilden sich – wie in anderen Gemeinden auch – Bürgerinitiativen. Tegel geht bis 2021 in Betrieb und beeinträchtigt die Lebensqualität trotz Schallschutzfenstern. Die BI zum Kraftwerk Oberhavel ist erfolgreicher. Es gelingt, den Bau an einem Badeplatz des Johannesstifts zu verhindern. Zum Kirchentag wird ein Dampfer organisiert, der an wichtigen Stellen zur Information stoppt. Auch in den Messehallen wird informiert. Ab 1975 werden die BI-Vorhaben durch die neuen Pfarrer intensiviert, mit anderen Aktivitäten verknüpft und bringen neue Kontakte über die Gemeindegrenze hinaus. Eine Initiative kurdischer Frauen entsteht aus dem Engagement einer jungen  kurdischen Gastarbeiterin. So wird die Situation der Kurden in der Türkei in der Gemeinde bekannt.

Der Umbau der Lutherkirche beschäftigt die Gemeinde fast die ganzen 70er Jahre und wirkt schließlich wie ein Wunder.

Zusammenfassung

Die 70er Jahre waren in der Luthergemeinde ein aufregendes Jahrzehnt, das aus gewohnten Selbstverständlichkeiten gerissen hat. Eine intensive Auseinandersetzung um das Gemeindeverständnis hat die Suche nach neuen Antworten auf drängende Fragen befördert, hat Lust am Ausprobieren neuer Wege gemacht. Die Öffnung für die Nöte des politischen Alltags hat den Gemeindehorizont erweitert und mit Freude zum Engagement in Verantwortung ermutigt. Die vielfältigen Herausforderungen führen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund generationenübergreifend zusammen und lassen sie die Gemeinde als gemeinsame Basis verstehen.

Was dabei an Bleibendem entstanden ist, hat die weitere Geschichte gezeigt und muss hinterfragt werden.

                              Wolf Jung, ehemaliger Pfarrer der Luthergemeinde


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Wie lieblich sind Deine Wohnungen – vom Gotteshaus zum Mietwohnhaus


Erinnerungen von Pfarrer i.R. Christian Maechler


Seit 125 Jahren ragt der hohe Backsteinturm der Lutherkirche über die Häuser der Spandauer Neustadt. Wie eine Glucke thront der rote Ziegelbau auf dem Lutherplatz, erbaut in Rekordzeit von 1894-96 als dreischiffige Hallenkirche im Stil der Neogotik nach Entwurf des Architekten Anton Eugen Fritsche. Sie bot 1100 Sitzplätze und 500 Stehplätze. Immerhin 32.000 Mitglieder besaß die Gemeinde damals.


70 Jahre später: zu groß, zu teuer


Um 1966 hat sich der Kiez verändert. In den Mietshäusern der Neustadt lebten muslimisch geprägte Zuwandererfamilien, die große Kirche ist der auf 4000 Mitglieder geschrumpften Gemeinde buchstäblich über den Kopf gewachsen: zu groß, zu teuer im Unterhalt.

1981 findet ein Architekturwettbewerb statt. Die Kirche soll ein Gotteshaus mit Gemeindezentrum werden. Der siegreiche Entwurf ist jedoch zu teuer, der Denkmalschutz gegen den Umbau.

1981 kommt Pfarrer Christian Mächler an die Lutherkirche. Zuvor hatte er zehn Jahre im Jugendgefängnis Plötzensee gearbeitet. Dann bekam er eine Stelle an der Thomaskirche in Berlin-Kreuzberg angeboten und eine weitere Pfarrstelle an der Lutherkirche in Spandau, mitten im „Türken- und Kurdenkiez“, wie es damals hieß.


Gespräch mit Pfarrer i.R. Christian Mächler im September 2021


Was hat Sie an der Lutherkirche fasziniert, als Sie 1981 dort anfingen?

Fasziniert hat mich an Luther, dass es eine lebendige Gemeinde gegeben hat, die sich um die Menschen im Stadtteil gekümmert hat. Mit verschiedenen Aktivitäten, offene Jugendarbeit oder auch der Versuch, andere Formen des Gottesdienstes zu finden. Der Schwerpunkt der Arbeit in der Gemeinde lag damals darin, die Kirche in irgendeiner Weise sinnvoll zu nutzen, denn sie war zu groß mit ihren 1500 Plätzen.

Im Gefängnis habe ich gelernt, mich um Randgruppen, Minderheiten, Leute zu kümmern, die es schwerer haben im Leben als andere. Vorher war ich sechs Jahre in England gewesen. Der Mut in England, offen mit alter Architektur umzugehen, Altes und Neues nebeneinander zu setzen, das hat mich geprägt.


Was war Ihr erster Eindruck der alten Kirche, als Sie dorthin kamen?

1896 war die Kirche geweiht worden, eine Riesenkirche, ein schöner Altar der Jahrhundertwende, die große hölzerne Kanzel, die heute noch da ist, aber nie genutzt wurde, höchstens, wenn die Kinder da mal Verstecken gespielt haben. Aber die Stimmung in der Kirche war düster durch die graue, nach dem Krieg eingesetzte neue Verglasung. Die Leute, ob sie zum Gottesdienst kamen, 50 oder 100 (damals), auf den Emporen nochmal 400 Plätze, die verloren sich in der Kirche, das war traurig. Und auch nicht zu verantworten, die Kirche zu benutzen im Winter, weil die Heizkosten so hoch waren. Die Gemeinde ist dann für die Gottesdienste ins Paul-Schneider-Haus gegangen. Wir haben dort in kleineren Räumen mit Gottesdienstformen experimentiert. Das war eine schöne Zeit.


Auf welche Situation trafen Sie 1981, welche Überlegungen gab es damals in der Luthergemeinde für die Nutzung der Kirche?

Ich habe damals festgestellt, dass es schon 1966 einen GKR-Beschluss gegeben hat, die Kirche umzubauen. Es gab auch einen Architektenwettbewerb, es sollten zusätzliche Emporen eingezogen werden, es sollte ein Raumprogramm entwickelt werden, um das Paul-Schneider-Haus aufzugeben als Gemeindezentrum. Auf den Emporen sollten Fotolabore und Jugendräume eingerichtet werden, unten im Kirchenschiff sollte das Gemeindebüro rein. Also, sehr mutige Vorstellungen. Der Mittelraum der Kirche sollte eine große Agora werden mit einer versenkbaren Wand umgeben, wo der Altarraum als Zentrum gestaltet werden sollte. Aber man hatte Sorge, dass der offene Raum von den Emporen aus mit Papierkugeln beworfen werden könnte. (schmunzelt)


Warum wurden diese Pläne nicht weiterverfolgt?

Es war ein sehr teures Projekt, keiner wollte mitmachen. Im Kirchenkreis hatten alle mit eigenen Gebäuden zu tun, die Kosten von 6-8 Mio. D-Mark wären an der Gemeinde hängengeblieben. Die Landeskirche hätte ein Minimum dazugegeben. So hat man sich allmählich von dem Konzept verabschiedet.


Wie ging es dann weiter?

Als ich 1981 kam, lag dieses Projekt im Sterben. Und dann haben wir die Vorstellungen weiterentwickelt, es war immer ein Interesse der Kirche und der Gemeindegruppen, die Kirche weiter zu nutzen.

Ich habe da gern mitgemacht, andere Pfarrer waren nicht so interessiert. Hinten in der Kirche war so ein kleiner Tisch, da hat man Gottesdienst gefeiert, den Kollegen war nicht so wichtig, wie so etwas aussieht. Das Konzept, das Gemeindehaus in die Kirche hineinzubauen, war gescheitert.


Nach welchen Alternativen haben Sie dann gesucht?

Mit Aktiven vom GKR sind wir zunächst herumgezogen und haben versucht, das alte Modell anzupreisen. Dann merkten wir, das geht nicht, auch wegen der Kosten. Anfang 1982/83 haben wir das Konzept begraben und neu überlegt, was können wir mit der Kirche machen. Es war die Zeit der großen Diskussionen über die Umnutzung der Kirchen. Der Denkmalschutz war immer für den Erhalt, hat aber nie einen Pfennig locker gemacht, um das zu unterstützen. Wir haben dann Kontakt aufgenommen zur obersten Denkmalbehörde, zu Landeskonservator Prof. Helmut Engel. Er hat uns dann eingeladen, zusammen mit dem Architekten Dieter Ketterer (Frau Ketterer war aktives Gemeindemitglied im GKR). Bei zwei Flaschen Wein bei Ketterers hat Landeskonservator Engel ein Konzept entwickelt, immer mit einem Filzstift so auf dem Grundriss rumgemalt, wie er sich das vorstellen könnte. Und hat dann gesagt: Wohnen in der Kirche könnte ein Konzept sein. Also, es war die klare Verabschiedung von dem Gemeindekonzept. Das Paul-Schneider-Haus sollte dann auch erstmal erhalten bleiben.


Wie wurde der Architekt gewonnen und wie ist er das Projekt angegangen? Und wie wurde es von der Gemeinde begleitet?

Ketterer hat Spaß daran gehabt. Er war spezialisiert auf Krankenhaus-Umbauten, hat sich aber gern um die Kirche gekümmert, weil es auch seine Kirche war. Als Pfarrer blieb mir immer die Rolle, anzustoßen und zu schieben und nachzufragen und mit ein bisschen Fantasie Leute auch zu ermutigen.

Sowie bekannt wurde, dass dieses Projekt weiterentwickelt werden sollte, gab es jedoch Gegenwind. Ich erinnere mich an Tagungen, wo wir als Kirche und auch der Landeskonservator zerrissen wurden, in der Kirche selber. Das war keine leichte Zeit.


Welche Argumente wurden gegen diesen Plan ins Feld geführt?

Wohnungen in die Kirche zu bauen, den Gottesraum zu verändern und zu verkleinern war eigentlich nicht denkbar. Man wollte das Alte erhalten. Die Kirche hatte einen großen Kriegsschaden gehabt mit Wassereinbrüchen, die Fenster waren nicht mehr bunt verglast, es war alles etwas lieblos gemacht. Es gab auch Stadtteilinitiativen, die versucht haben, die Kirche für sich zu nutzen.

Und wir sind dann losgezogen mit unseren Argumenten und haben provoziert. Es gab so eine Zwischenzeit, bevor das mit Engel richtig losging, da haben wir mit der Landeskirche verhandelt. Unser Angebot ging bis zum Verkauf der Kirche. Wir haben gesagt, die Alternative Liste (Vorläufer der Partei Die Grünen) könnte da ein Zentrum haben, die wollten dann aber nicht, die suchten ein Zentrum für ihre Arbeit in Berlin. Dann haben wir gesagt, machen wir ein Schwimmbad daraus. In der Zeit war gerade in Moskau die alte deutsche Kirche zu einem Schwimmbad umgebaut worden, die ist zurückgebaut worden, das gab es also schon mal. Die Emporen, da sollte ein Sprungturm rein. Wir haben gesagt: Die Kirche abreißen oder verkaufen. Wir haben also hoch gepokert und als Gemeinde, als GKR, immer neue Ideen entwickelt, wie man die Öffentlichkeit auch ein bisschen verschrecken könnte, sage ich mal.


Wie ging das mit dem Projekt „Wohnen in der Kirche“ dann weiter, für wen sollten die Wohnungen sein?

Sowie klar war, dass Wohnungen eingebaut werden sollen, hat Gemeinde geguckt, was ist im Stadtteil nötig und haben nach Fördermaßnahmen geguckt. Da sind wir sofort auf die Förderung für WBS mit Vorrang gekommen, weil das Alleinstehende, -erziehende, Behinderte bevorzugen würde. Das haben wir mit der Treuhand, die sich um die Wohnungen kümmern würde, ausgehandelt. Keine Schicki-Micki-Wohnungen, in der Kirche zu wohnen ist vielleicht am Prenzlauer Berg was Tolles aber nicht in der Spandauer Neustadt.


Welche Vorgaben hat die Denkmalpflege gemacht und wie hat der Architekt diese umgesetzt?

Das Haupthindernis oder die Verteuerung des Projekts durch den Denkmalschutz bewirkte die Auflage der Reversibilität. Alles musste jederzeit rückbaufähig sein. Was es kosten würde, danach hat keiner gefragt. Wenn Sie sich die Wohnungen heute angucken: Sie gehen in der ersten Etage, in der unteren Reihe, da haben Sie eine Stufe drin in der Wohnung, weil Sie über die alte Brüstung der Emporen gehen müssen. Es durfte nicht eingeschnitten werden, es musste alles umbaut werden. Wenn Sie ganz oben sind, haben Sie die alten Gewölbestruktur in den Wohnungen. Es ist schon etwas Schönes, überall in den Wohnungen entdecken Sie Teile der alten Kirche. Architektonisch ist das reizvoll, aber als Gemeinde haben wir immer Wert darauf gelegt, dass die Mietpreise erschwinglich bleiben und Leute da einziehen können, die sonst Schwierigkeiten haben, Wohnraum zu finden.

Die Menschen, die da wohnen - der Denkmalpfleger hatte das Vorbild eines alten Klosters im Kopf: Beten, Wohnen, Arbeiten unter einem Dach. Uns war wichtig, dass wir als Gemeinde mit den Bewohnern eine Art Solidarität entwickeln und die einladen als Gemeinde, dass wir uns um sie kümmern, ihre Situation ernst nehmen und uns mit ihnen zusammentun, um sie zu integrieren. Eine Idee war ja, einen Treffpunkt in der alten Ehrenhalle zu machen, der für die Bewohner auch nutzbar ist. Das ist der Luthertreff. Diese Idee ist später gestorben, die Gemeinde wollte das dann später vermieten, das bringt Geld.


Welche Vorstellungen gab es für den neuen Gottesdienstraum im letzten Drittel des Kirchenschiffs und dem Chor?

Der alte Altar - Viele wollten, dass er drin bleibt. Er nahm fast die Hälfte des Mosaikbodens im Chorraum ein. Der Vorsitzende des Baurates schlug vor, den Altar in die Melanchthonkirche zu versetzen. Das war toll und gab uns eine neue Chance, den Gottesdienstraum multifunktional zu nutzen.

Ursprünglich war an einen Zentralaltar gedacht mit Stühlen drumherum, das Andreaskreuz war als Grundriss Vorbild für den Architekten. Oben, der große Leuchter, sollte an eine mittelalterliche Kirche erinnern. Für die Bestuhlung wollten wir keine festen Sitzplätze, keine Reihen. Wir behielten einige der alten Kirchbänke, die stehen heute noch am Rand des Gottesdienstraums. Wir wollten einfach flexibel werden.

Diese Ideen kamen aus der Zeit der Gottesdienstreformen der 1970er/80er Jahre. Da hat man versucht, veränderte Formen zu finden, wie Menschen miteinander kommunizieren, essen, tanzen, alle diese Möglichkeiten wollten wir in einem freien Raum umsetzen, einfach die Stühle beiseite schieben, dann konnte man tanzen.


1994-1997 wurde die Lutherkirche umgebaut. Wie wurde der neue Gottesdienstraum von der Gemeinde angenommen?

Diejenigen, die den Prozess mitverfolgt haben, waren hocherfreut: Das ist das, was wir uns vorgestellt haben! Der Architekt ist auch immer wieder auf die Wünsche eingegangen, wenn Veränderungen oder Beleuchtungsfragen oder so was diskutiert worden, war eine Gemeindegruppe mit ihm im Gespräch. Diejenigen, die einmal im Leben oder zu Weihnachten betreten haben, haben gesagt: Was habt Ihr aus unserer schönen alten Kirche gemacht? Die sehnten sich nach der großen Hallenkirche, dem Ehrwürdigen, was Viele in großen Kirchen erfreut. Dass diese großen Kirchen unpraktisch sind für kleiner werdende Gemeinden, haben sie nicht bedacht.

Es hat einen Umdenkungs- und Erfahrungsprozess gegeben, dass Menschen, die erst gesagt haben, nee, da gehe ich nie wieder hin, gemerkt haben, da ist Leben in der Bude plötzlich, da kann man miteinander Gottesdienst feiern. In diesem neuen Raum gibt es genügend Möglichkeiten zur Meditation, das Sakrale kommt durchaus zur Geltung. Der Raum ist kein Tummelplatz für Leute, die etwas ausprobieren wollen, es gab schon immer den Versuch, Struktur in den Raum hineinzubringen. Das hat Menschen erfreut, dass dieser Raum lebendig genutzt werden konnte.


Im neuen Kirchenraum sind ja Elemente der alten Kirche erhalten geblieben, sozusagen als Erinnerungsinseln. Wie kam es dazu?

Das ist entwickelt worden im Zuge des Planungsprozesses. Da stellten sich die Fragen: Was machen wir mit der Kanzel, was mit dem alten Fußboden, wenn wir die Fußböden anheben, wenn wir den alten Mosaikboden bewahren wollen, da hätte man keine Fußbodenheizung darunterlegen können, das hätte man alles aufnehmen müssen, das Mosaik hätte Schaden genommen. So hat man einen Teil des Bodens belassen und im Rest der Kirche eine Fußbodenheizung eingebaut. Es sind also Kompromisse entstanden, aber die entscheidenden Fragen sind gemeinsam gelöst worden. Da hat nicht der Architekt gesagt, das machen wir so und so, das war ein Miteinander, immer.


Worin bestanden die größten Hindernisse in der letzten Phase vor dem Umbau?

Es gab Probleme, man merkte plötzlich, dass die Mittel nicht reichen, war eine Aufteilung der Kosten zwischen der Treuhandgesellschaft, diesem Immobilienfond, die für die Wohnungen zuständig sein sollten und gesagt haben, wir übernehmen die Kosten der Wohnungen aber nur mit Förderung der Stadt Berlin. Das war eine wichtige Voraussetzung. Und dieses Miteinander von Kirche und Wohnungsgesellschaft musste erarbeitet werden. Es mussten Verträge abgeschlossen werden, Juristen wurden beschäftigt, wie man so was löst, da mussten Kosten geteilt werden, die Frage war z.B., wer für Kosten aufkommt, wenn etwas kaputt geht.

Es gab eine große Krise, als sich herausstellte, dass die Kirche, die damals 2 Mio. D-Mark angesetzt hatte für ihren Teil, plötzlich 3 Mio. D-Mark aufbringen sollte. Da mussten wir innerhalb von 14 Tagen eine Million finden. Fragen Sie nicht - das waren schlaflose Nächte, wir haben sie dann gefunden, ein Kredit.

Auch die Landeskirche hat nochmal gesagt, wir wollen, dass das Projekt umgesetzt wird und gab einen größeren Teil der Summe dazu.

Es gab aber auch Gegner, es gab Vertreter innerhalb des Pfarrkollegiums, die gesagt haben, wir brauchen eine große Kirche für Veranstaltungen, je größer die Kirche desto mehr Leute kommen rein. Aber die Gruppe, die für den Umbau war, hat sich am Ende durchgesetzt.


1997 wurde die umgebaute Kirche neu geweiht. Wie hat sich die neue Nutzung im Gebrauch entwickelt? Wie wurde der neue Gottesdienstraum von der Gemeinde und den Mitarbeitenden angenommen, welche neue Inspiration zogen sie daraus?

Alle Mitarbeiter, haupt- und ehrenamtliche, haben Lust und den Spaß gehabt, zu experimentieren: Können wir es nicht so machen, dann kam plötzlich die Mitarbeiterin der Seniorenarbeit mit der Idee, können wir da nicht die Weihnachtsfeier machen. Um Gottes Willen mit Weihnachtspunsch, so kamen die Gegner. Das wurde dann aber umgesetzt. Es gab Konzerte, nicht nur klassische, es fanden Rockkonzerte statt, es spielten plötzlich Bands in der Kirche. Die Akustik war ein bisschen schwierig, weil die Kirche höher ist als sie es in der Tiefe ist, aber es hat Allen in den ersten Jahren Spaß gemacht. Was ein bisschen auf der Strecke geblieben ist, war das Paul-Schneider-Haus. Aber heute ist das ja zum Glück in trocknen Tüchern.


2015 wurde die neue Orgel geweiht, ein Instrument der saarländischen Orgelbaufirma Hugo Mayer. Den Prospekt, also die Ansicht, hat ebenfalls der Architekt Dieter Ketterer entworfen, eine sehr geometrische, moderne Struktur mit metallisch glänzenden Pfeifen und Streben und roten Holzelementen. Wie fügt sich das neue Instrument in den Raum, glauben Sie?

Ich war immer im Orgelverein. Es gehörte immer zum Konzept des Umbaus, eine Orgel einzubauen. Das steht in allen Planungsunterlagen. Nur, die 100.000 Euro, die das kosten sollte, brauchten wir an anderen Stellen. Also haben wir das aufgeschoben. Aus dem Orgelverein wurde ein Förderverein, da wurde daran weiter gearbeitet. Das zog sich über Jahrzehnte hin.

Als ich die neue Orgel zum ersten Mal gesehen habe, fand ich sie zu groß und zu beherrschend. Aber ich bin versöhnt durch den Klang, durch die Möglichkeiten, die sie bietet. Und ich beobachte jetzt aus der Ferne - dem Ruhestand - , wie mit der Orgel auch experimentiert wird und das Instrument die Leute angelockt.


Hat sich der neue Gottesdienstraum bewährt aus Ihrer Sicht?

Ich als Pfarrer war immer froh, dass ich ohne Mikrofon predigen konnte. Die Akustik hat es hergegeben, dass man im Kammerton miteinander kommunizierte. Das galt auch für Gesprächskonzerte. Ich habe mich immer wohl gefühlt, auch, weil man was verschieben konnte, der Andachtsraum war nicht statisch. Dieser Raum ermöglicht eine Dynamik im Gegensatz zu vielen Kirchen, wo man immer am selben Ort stehen oder sitzen muss, eine Flexibilität, die hat immer funktioniert.


Würden Sie sagen, dieses offene Konzept ist gelungen?

Ja, mit ein paar Einschränkungen. Das Gemeindebüro ist jetzt auch unter dem Dach der Lutherkirche. Man sagt nicht, ich gehe zum Gottesdienst sondern ich gehe zur Kirche, wenn man eine Patenbescheinigung abholen will oder ein paar Euros bezahlen muss. Die Mitarbeiter trafen sich plötzlich in der Kirche, der Kirchenmusiker verzog sich dann in sein die Sakristei hinter dem Altar, aber es waren alle da. Man hatte Mitarbeiterbesprechungen im Luthertreff, ich weiß nicht wie das heute ist. Aber wenn ich hinkomme, fühle ich mich nach wie vor wohl und fühle mich zu Hause. Auch im Luthertreff, der viel zu klein ist, für Vorträge Kammerkonzerte usw., aber er wird genutzt, das ist schön.


Die Fragen stellte Sigrid Hoff, Mitglied im Gemeindekirchenrat der Luther-Kirchengemeinde